Warum Zensuren und Zeugnisse mit Vorsicht zu genießen sind
Zensuren und Zeugnisse sind in vielen Familien ein heikles Thema. Vor allem dann, wenn es eine deutliche Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Eltern und der ernüchternden Bewertung durch die Lehrer gibt. Doch Tränen, knallende Türen und versaute Ferien müssen nicht sein. Denn Noten sind nur Zahlen und gar nicht so objektiv wie sie scheinen.
Eltern – und da nehme ich mich als Vater zweier Jungs gar nicht aus – erwarten oder erhoffen, dass ihre Kinder ein gutes Zeugnis nach Hause bringen. Aber was ist ein „gutes“ Zeugnis? Auch eine Vier bedeutet, dass die Leistung Ihres Kindes zwar „Mängel aufweist, aber im Ganzen den Anforderungen noch entspricht.“ Für eine Vier hat Ihr Kind etwa die Hälfte oder mehr der gestellten Aufgaben richtig lösen können. Das Glas bzw. der Kopf Ihres Kindes ist also mehr als halbvoll. Also gar nicht so schlecht, oder?
Sind Zensuren überhaupt noch zeitgemäß?
Meistens setzen wir unsere Erwartungen zu hoch an. Wir denken an unser eigenes Zeugnis und sehen in der Erinnerung die vielen Einsen und Zweien und das prächtige Abitur, das wir hingelegt haben. Dieses Bild übertragen wir auf unsere Sprösslinge. Dabei verkennen wir, dass sich das Verständnis von Schule und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben. Die Leistungsanforderungen, die an die heutigen Kinder gestellt werden, sind ganz andere, als vor 20 oder 30 Jahren, als wir selbst in die Schule gegangen sind. Unter Lernen versteht man heute etwas anderes und auch die Lernbedingungen haben sich massiv gewandelt. Das Angebot ist vielfältiger und es gibt mehr Möglichkeiten, sich mit seinen individuellen Fähigkeiten zu beteiligen. Das stumpfe Abfragen von Wissen ist längst überholt und die Schüler nutzen Apps auf ihrem Smartphone, mit denen Sie Aufgaben fotografieren und den kompletten Lösungsweg erhalten. In diesem Umfeld wirken Zensuren irgendwie anachronistisch.
Und dennoch werden sie genutzt, um die Leistungen der Schüler zu bewerten. Sie sind Anreiz, sich zu engagieren, Vergleichsmaßstab, Druckmittel, Motivator und Auslöser von Selbstzweifeln, Versagensängsten sowie Streit in der Familie. Zensuren geben eine Orientierung und zeigen den Eltern, in welchen Fächern das Kind gut ist und wo es noch Defizite hat. Sie zeigen eine grobe Richtung, wo das Kind steht und sollten ein Anlass sein, über die Schule zu sprechen. Aber Zensuren sollten nicht dazu genutzt werden, das Kind zu be- oder gar abzuwerten (da bist du gut, da bist du schlecht).
Zensuren werden von Lehrern vergeben – sie sind kein objektiver Messwert
„Eine Eins ist eine Eins und eine Vier ist eine Vier“, höre ich manche Eltern sagen. Aber auch das stimmt nicht ganz. Die scheinbar exakten Zahlen, mit denen die Leistungen der Kinder bewertet werden, täuschen eine Objektivität vor, die gar nicht vorhanden ist. Die Zensuren hängen von vielen Faktoren ab und unterliegen immer einem Ermessensspielraum der Lehrer.
Auf der Seite der Schulpsychologen in NRW habe ich einen erhellenden Text gefunden: Schulnoten aus psychologischer Sicht.
So können die Schulen in Lehrer- oder Fachkonferenzen je nach Bundesland und Profil der Schule festlegen, ob es eine Vier schon bei 45% der erreichbaren Punkte gibt oder erst bei 60%. Jeder Lehrer kann im Zweifel zum Vorteil des Schülers entscheiden oder sehr streng und konsequent bewerten. Jeder Lehrer hat die Möglichkeit viele kleine Tests zu schreiben (z.B. die täglichen Übungen in Mathematik), um Schülern die Chance zu geben, verpatzte Klassenarbeiten mit vielen besseren Noten auszugleichen. Er kann aber auch nur die Pflichtarbeiten schreiben lassen, womit dann nur wenige Zensuren über die Endnote entscheiden.
Der Einfluss der Lehrer ist schon vor der Bewertung groß. Wie vermittelt er den Lernstoff? Kann er gut erklären? Geht er auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler ein? Welche Lehrmethoden wendet er an? Welchen Anspruch hat er an die Leistungen der Klasse? Wie kommt er persönlich mit den Schülern zurecht? Ist er emptahisch und beurteilt die individuellen Möglichkeiten der Schüler oder fordert er von allen Schülern die gleiche Leistungsbereitschaft? Nutzt er Zensuren als Druckmittel, um sich Respekt und Disziplin zu verschaffen?
Schlechte Zensuren gleich „schlechte“ Kinder?
Eine meiner Schülerinnen ist ehrgeizig, intelligent und äußerst engagiert. Sie nutzte die Lernhilfe bei der Alpha vor allem, um gefordert zu werden und eine sichere Zwei bzw. Eins zu erzielen. In ihrer Klasse ist sie zu recht eine der Besten. Dann bekommt sie einen neuen Lehrer – und schreibt plötzlich Dreien und Vieren. Dabei hat Sie alles verstanden. Sie kann alle Aufgaben lösen. Doch die Tests und Klassenarbeiten sind extrem schwierig. Sie steht unter Druck, beginnt an sich zu zweifeln. Nun ist sie mit einer Drei zwar immer noch die Beste der Klasse. Aber auf dem Zeugnis steht trotzdem eine Note, die ihr Selbstwertgefühl untergräbt.
Zensuren sind also nur ein Hilfsmittel, um Leistungen innerhalb einer Klasse zu vergleichen. Sie sind kein absoluter, kein objektiver Maßstab für die Fähigkeiten der Schüler. Über Ihre Kinder sagen sie nur bedingt etwas aus. Seien Sie also nicht nur mit Ihren Kindern kritisch, sondern hinterfragen Sie immer auch die Aussagekraft der Note an sich.
Ich kenne zum Beispiel einen Jungen, der voller Ideen ist, gewitzt, charmant, ganz sicher intelligent, der einen unverstellten, messerscharfen Blick auf die Welt und die Menschen hat, der sehr präzise antworten kann, wenn er will und wenn man ihn so reden lässt, wie es zu ihm passt. Leider fehlt ihm komplett das Verständnis dafür, in von anderen festgelegten Situationen abverlangtes Wissen wiederzugeben, zu vorgegebener Zeit sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihn in dem Moment gar nicht interessieren. Seine Noten sind entsprechend. Und trotzdem ist er ein großartiger Mensch. Genauso wie Ihre Kinder.
Deshalb ist Gelassenheit die beste Art, mit vermeintlich schlechten Zensuren umzugehen. Sehen Sie Zensuren als einen Indikator, der Sie auf eventuell bestehende Probleme Ihrer Kinder aufmerksam macht. Eine Vier oder Fünf auf dem Zeugnis ist in jedem Fall ernst zu nehmen. Doch statt sich zu ärgern und mit Ihrem Kind zu schimpfen, müssen Sie die die Ursachen genau erforschen. Am besten gemeinsam mit Ihrem Kind.
Welche Meinung haben Sie zum viel diskutierten Thema Zensuren? Sind sie notwendig? Können sie abgeschafft werden? Sollten andere Maßstäbe angewandt werden? Schreiben Sie doch einfach einen Kommentar. Wir freuen uns über Ihre Meinung.